domradio.de: Zu welchen Ergebnissen sind Sie nach einem Jahr gekommen?
Claudia Bundschuh (Wissenschaftliche Leiterin Projekt Collegium Josephinum): Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es doch eine Mehrzahl von Beschuldigten gibt. Zu Beginn des Projekts ging es vor allem um einen ehemaligen Mitarbeiter des Konvikts, der unter Verdacht stand bzw. beschuldigt worden ist. Inzwischen sind wir bei sechs Fachkräften, die beschuldigt werden, sexualisierte Gewalt oder sexualisierte Übergriffe begangen zu haben. Das können Sie im Zwischenbericht lesen. Wir haben darüber hinaus neun Beschuldigte im Hinblick auf körperliche Gewalt, körperliche Misshandlung und psychische Gewalt.
domradio.de: In welchen Zeitraum haben sich die Taten abgespielt?
Bundschuh: Wir haben bisher Rückmeldungen zum Zeitraum der frühen 1950er Jahre bis 1994. So weit reichen die Berichte derjenigen, die an den Interviews teilgenommen haben bzw. Rückmeldungen gegeben haben. Im Hinblick auf das Thema Gewalt können wir deutlich sehen, es gab einen Höhepunkt Ende der 1950er Jahre, in den 60er Jahren bis weit in die 70er Jahre und so ab Mitte der 80er Jahre liegen uns gar keine Berichte mehr über Gewalt in irgendeiner Form vor.
domradio.de: Es geht also sehr weit zurück. Die Taten sind vermutlich verjährt. Wie kommt es, dass sich nach so langer Zeit plötzlich Menschen melden?
Bundschuh: Man darf nicht vergessen, dass die Menschen damals in einer Zeit gelebt haben, in der das Sprechen darüber absolut tabu war. Für die Schüler, die damals im Internat waren, war sehr klar: Wenn sie alles offenlegen, würde es eine weitere Beeinträchtigung für sie bedeuten. Sie würden eher bestraft als positiv unterstützt. Auch das Erziehungskonzept war damals ein anderes. Viele Eltern haben es durchaus befürwortet, dass da eine strenge Hand herrschte und dass auch sanktioniert wurde, vor allem auch körperlich bestraft wurde. Und das Thema "sexualisierte Gewalt" gab es einfach nicht. Weder durch Fachkräfte oder durch Eltern, noch durch Vertreter der Kirche.
domradio.de: Das heißt, es wurde alles totgeschwiegen. Wenn jetzt alles aufgearbeitet wird, ist das auch eine persönliche Aufarbeitung für die Opfer?
Bundschuh: Ganz sicher. Das ist ja wichtig mitzubekommen: Es glaubt mir jemand und ich werde in meinem Leid ernst genommen. Das ist sicher eine ganz zentrale Erfahrung. Viele haben mit der Wahrnehmung gelebt, dass es nur ihnen passiert ist. Sie dachten, sie sind selber schuld daran. Wenn sie sich in ihrem Verhalten verändert haben, ist ihnen dies immer negativ zurückgespiegelt worden. Jetzt wird ihnen deutlich gemacht, dass diejenigen schuldig und verantwortlich sind, die ihnen das angetan haben. Das ist ein wichtiger Punkt im Hinblick auf Entlastung.
domradio.de: Was wurde Ihnen denn beispielsweise zurückgemeldet?
Bundschuh: Im Hinblick auf sexualisierte Gewalt und sexuelle Übergriffe wurden erotisch gefärbte Berührungen am ganzen Körper zurückgemeldet, sehr langes, enges Halten, mit den Händen alles abtatschen. Wir haben auch ganz klar Berührungen des Geschlechtsorgans bei den Jungen, unter die Decke gehen, in die Hose der Jungen greifen oder die Jungen auch an das eigene Geschlechtsorgan führen mit dem Versuch, sich dadurch zu erregen. Die körperliche Gewalt fing an bei Ohrfeigen und Klapsen auf den Hinterkopf und ging bis hin zum Zusammenschlagen von Köpfen, Fußtritten mit Anlauf oder Zusammenschlagen mit Gegenständen, Holzstöcken zum Beispiel.
domradio.de: Wie geht es jetzt mit Ihrem Projekt weiter?
Bundschuh: Uns ist es ganz wichtig, dass möglichst alle ehemaligen Schüler von diesem Projekt etwas mitbekommen, um die Möglichkeit zu haben, im Projekt ihre Erfahrungen offenzulegen, wenn sie das wollen. Das Projekt ist eines mit und für Betroffene, das heißt, was genau noch passiert, welche Bausteine wir noch entwickeln - das hängt zentral davon ab, was die Betroffenen sich wünschen. Für uns ist immer wichtig: Was hilft ihnen jetzt? Wir können nichts rückgängig machen, was in der Vergangenheit war. Aber wir erleben immer wieder, dass es für die Betroffenen eine lange belastende Zeit gewesen ist, die sie bis heute beschäftigt. Wie bekommen sie jetzt die Möglichkeit, Entlastung zu finden und ein Stück weit verarbeiten zu können.
Das Interview führte Silvia Ochlast.
