domradio.de: Die katholische Kirche Deutschlands und Polens war Brückenbauer nach dem Krieg. Kann die Kirche auch heute noch gegen alle nationalen Überheblichkeiten Brücken bauen?
Kardinal Marx: Ja, das wollte ich auch am Sonntag in der Predigt deutlich machen. Natürlich gab es aber auch bei den Kirchen schon oft die Versuchung, sehr national, manchmal sogar nationalistisch zu denken: Wenn wir uns z.B. die Hirtenworte der deutschen und französischen Bischöfe im Ersten Weltkrieg anschauen. Das ist schade, der Papst der damaligen Zeit hatte ganz anders gesprochen, und natürlich hätte vom Evangelium her eine universale Botschaft da sein müssen: Alle Menschen sind Brüder und Schwestern. Natürlich sind wir Patrioten, wir sind mit unserer Heimat verbunden, das ist überhaupt keine Frage, aber wir denken immer über unser Land hinaus, wir denken universal, wir denken an die eine Menschheitsfamilie. Das muss vom Evangelium ausgehen, das ist die Sprengkraft und auch die revolutionäre Kraft des Evangeliums, die immer wieder lebendig werden muss. Das ist gerade in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg von Christen vorangetrieben worden. Die polnischen Bischöfe hatten wirklich Mut, als sie während des Konzils den Brief an die deutschen Bischöfe geschrieben haben mit dem berühmten Satz: Wir bitten um Vergebung und wir gewähren Vergebung. Das war für sie nicht einfach, sie haben da große politische Probleme bekommen in ihrem eigenen Land und auch nicht nur Zustimmung bei ihren Gläubigen. Aber es war ein erster Schritt, wo deutlich wurde: Wir können vorangehen und über unsere engen Grenzen hinausgehen, weil das Evangelium in uns lebendig ist. Das muss auch für heute gelten! Das ist jetzt meine Sorge für Europa, und ich habe das auch in meiner europäischen Verantwortung immer wieder gesagt: Wir haben neue Populismen und neue Nationalismen, eine neue Engführung und neue Abgrenzungen. Das führt nicht weiter. Das führt zu Spannungen und einem Gegeneinander, und darin kann keine wirklich Zukunft liegen.
domradio.de: Welche Rolle kann die Kirche spielen, damit diese neuen Nationalismen nicht wieder allzu stark aufblühen?
Kardinal Marx: Durch Begegnung, Gebet und Predigt. Wir müssen nur das Evangelium predigen und die Menschen zusammenführen, in Begegnung bringen, das ist immer die Kraft der Kirche gewesen. Der Kardinal von Warschau sagte mir, wie intensiv gerade in der Zeit des Kommunismus auch die deutschen und die polnischen Pfarreien Kontakte gehalten haben. Das ist von den Kirchen ausgegangen und hat dann zu Städtefreundschaften geführt. Die Kirchen hatten also oft Möglichkeiten, die die Politik nicht hatte. Etwas durch Jugendbegegnungen und -bewegungen und Wallfahrten. Ich habe hier erzählt von meinen Studentenwallfahrten, die ich gemacht habe nach Polen, mit vielen Begegnungen mit Studenten hier in Lublin und woanders. Da ist schon einiges möglich. Aber dafür braucht man Priester und Laien, Hauptamtliche und Ehrenamtliche, die sich auf den Weg machen. Wir brauchen Bischöfe und Priester, die das Evangelium von der einen Menschheitsfamilie, von der Brüderlichkeit und Geschwisterlichkeit aller Menschen predigen.
domradio.de: Wir leben in einem geeinten Europa, aber es gibt viele Krisen, wenn wir z.B. in die Ukraine schauen. Auch Polen ist da betroffen. Spüren Sie in Polen eine Angst?
Kardinal Marx: Absolut, keine Frage. Das ist auch immer wieder Thema bei den Gesprächen hier. Die Vergleiche und Assoziationen sind da. Die polnischen Gesprächspartner schauen mit großer Sorge auf das, was in der Ukraine passiert. Das kann man auch verstehen: Je näher man an den Problemen dran ist, umso stärker spürt man auch aus der ganzen Geschichte Polens heraus, dass hier die Sorgen nicht unberechtigt sind.
domradio.de: Wie können wir unsere Solidarität zeigen mit den Polen?
Kardinal Marx: Wir können uns erst einmal die Sorgen anhören. Wir haben als Kirche keine politische Aktion zu starten, hier ist zunächst einmal die Politik gefordert. Aber wir können vor allen Dingen die Brücke des Gebets bauen. Es findet ja auch in der nächsten Woche die Synode der ukrainisch-katholischen Kirche satt und mir war es wichtig, dass auch dorthin einer unserer Bischöfe hinfährt. Bischof Ackermann wird als Vorsitzender von Justitia et Pax dabei sein. Und es ist auch wichtig, dass wir gerade jetzt hier in Polen zu Gast sind und mit unseren Brüdern und Schwestern sprechen können.
Das Interview führte Johannes Schröer.